Astronomiewebseiten verbreiten in diesen Tagen die Nachricht, auf dem Pluto sei eine Eisformation namens »Nieve penitentes« nachgewiesen worden, wie man sie aus den Hochgebirgen Südamerikas kenne, und eine Computersimulation habe gezeigt, wie sie entstehe. Dabei können viele mit dem Begriff nichts Richtiges anfangen und geben den Zusammenhang falsch wieder. Der folgende Artikel sucht, zu vermitteln, um was für eine Erscheinung es sich bei Nieve penitentes, dem Büßerschnee, tatsächlich handelt.
Abb. 1: Tartarus Dorsa, anfangs beschrieben als Schlangenhaut NASA/JHU-APL/SwRI |
Zunächst: Der Fund an sich ist nicht mehr ganz neu, die Vermutung, bei der Landschaft Tartarus Dorsa auf dem Pluto (Abb. 1) handle es sich um eine außerirdische Ausprägung von Nieve penitentes, findet sich schon in unserem Buch Pluto & Charon, Juni 2016. Neu ist lediglich die digitale Simulation von Moores u. a., die theoretisch bestätigt hat, was im Frühjahr nur eine Spekulation gewesen ist.
In den Alpen oder den Pyrenäen sucht man Nieve penitentes vergebens, denn er bildet sich nur in äquatornahen Hochgebirgen wie den Anden, dem Kilimandscharo, dem Elbrus oder dem Himalaya aus. Die Luft muss sehr trocken und sehr kalt sein – vielleicht auch sehr dünn? -, dann hinterlassen im Sonnenlicht sublimierende Eisdecken Strukturen, die meist nur 0,5 bis 1,5 m hoch und wenige Dezimeter weit sind, manchmal aber auch bis auf 6 m anwachsende Spitzen ausbilden können. Sie sind in regelmäßigen Abständen angeordnet und nach der vorherrschenden Einstrahlungsrichtung orientiert. Bergsteiger kennen diese Erscheinung auch als Zackenfirn (ice spikes oder ice blades). Abgesehen von ihrer äußeren Schönheit, vor allem bei Mondschein, ist sie wenig beliebt, denn sie ist mühsam zu begehen und erschwert das Vorankommen.
In den Alpen oder den Pyrenäen sucht man Nieve penitentes vergebens, denn er bildet sich nur in äquatornahen Hochgebirgen wie den Anden, dem Kilimandscharo, dem Elbrus oder dem Himalaya aus. Die Luft muss sehr trocken und sehr kalt sein – vielleicht auch sehr dünn? -, dann hinterlassen im Sonnenlicht sublimierende Eisdecken Strukturen, die meist nur 0,5 bis 1,5 m hoch und wenige Dezimeter weit sind, manchmal aber auch bis auf 6 m anwachsende Spitzen ausbilden können. Sie sind in regelmäßigen Abständen angeordnet und nach der vorherrschenden Einstrahlungsrichtung orientiert. Bergsteiger kennen diese Erscheinung auch als Zackenfirn (ice spikes oder ice blades). Abgesehen von ihrer äußeren Schönheit, vor allem bei Mondschein, ist sie wenig beliebt, denn sie ist mühsam zu begehen und erschwert das Vorankommen.
Abb. 2: Nazarenos als Vorbild für den Büßerschnee By Pedro J Pacheco (Own work) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons |
Zum ersten Mal beschrieb den Zackenfirn nicht, wie oft behauptet wird, der Maler Rudolf Reschreiter, sondern der Bergsteiger Dr. Paul Güssfeldt bei der Erstbesteigung des Aconcaguas 1883. In der Deutschen Rundschau, Band 42, 1885, erinnerte er sich, dass er die mannshohen Eiszacken, »welche unter einem besonderen Namen in die Wissenschaft eingeführt zu werden verdienen«, zuerst als »Kerzenfelder« bezeichnen wollte, »bis mir [der Bergführer Lorenzo] Zamorano das bessere Wort nieve de los penitentes, oder nieve penitente, 'Büßerschnee', an die Hand gab.« Lorenzo Zamorano fühlte sich von den Firnzacken offensichtlich an die spitzen weißen Hauben der Nazarenos erinnert, der Büßer bei den Prozessionen der spanischen katholischen Kirche (Abb. 2). Der Begriff nieve penitentes wird bereits von der Popular Science, Dezember 1917, als »international name« der Erscheinung bezeichnet.
Für das Auge machte in der Tat Rudolf Reschreiter (* 1868; † 1939) den Büßerschnee bekannt, der 1903 gemeinsam mit Prof. Hans Meyer die Kordilleren bereiste. Auf dem Westhang des Chimborazo entdeckte Reschreiter am 12. Juli Formationen von Zackenfirn, fotografierte sie (Abb. 3) und setzte seine Aufnahmen später in naturalistische Gemälde um, mit denen Prof. Meyer seinen 1907 erschienenen Bildband In den Hoch-Anden von Ecuador: Chimborazo, Cotopaxi, etc illustrierte. Eines dieser Gemälde ist heute im Alpenvereinsmuseum Innsbruck ausgestellt.
Abb. 3. Darstellungen des Zackenfirns von R. Reschreiter, 1907 |
Weder Güssfeldt noch Meyer hatten eine Erklärung für die Entstehung des Büßerschnees, außer, dass Wind und Sonne irgendwie beteiligt sein mussten. 1917 vermutete die Popular Sciences originellerweise Abschattung durch niedergeregnete Staubkörnchen von »meteors« als Ursache, warum beim Abschmelzen des Gletschereises Zacken zurückbleiben könnten. Erst hundert Jahre später, 2007, gelang es dem Team um M. D. Betterton, kleinmaßstäblichen Büßerschnee im Labor zu erzeugen:
»In der Natur entstehen die Nadeln jedes Jahr neu, wenn winzige Unebenheiten auf der Neuschneeoberfläche das Sonnenlicht in sich selbst streuen. Intensiveres Licht bringt mehr Schnee zum Verdampfen -- bei der Sublimation geht der Festkörper Schnee durch die trockene Luft direkt in Wasserdampf über. Der Prozess verstärkt sich selbst: Die Dellen werden immer tiefer und können so immer mehr Sonnenlicht "einfangen", so dass am Ende tiefe Höhlungen entstehen, zwischen denen die Eisspitzen stehen bleiben. Im Winter mit weniger intensiver Sonne füllt Neuschnee die Löcher auf, so dass im Frühjahr wieder eine geschlossene Oberfläche auf die Sonne wartet. Die Nadeln schützen die Gletscheroberfläche auf zweierlei Weise: Zum einen werfen sie Schatten, so dass weniger Oberfläche der Sonne ausgesetzt ist. Zum anderen vergrößert die dreidimensionale Form die Oberfläche des Gletschers enorm -- das liefert mehr Fläche für den Wärmeaustausch, und kalte Bergwinde können das Eis besser kühlen.
Um den Prozess zu beschleunigen, verstreute Bettertons Team Tonerpartikel eines Kopiergeräts auf frische Schneeblöcke. Waren die Partikel dünn genug verstreut, um Licht ans Eis zu lassen, so begann auch hier die Löcherbildung. Die Rußpartikel dienen den Eisspitzen als Lichtschutz und die Wartezeit bis zur Bildung der "Eisnadelwälder" verkürzte sich von drei Stunden auf eine halbe.« (Stand hier die These vom »Meteor«-Staub Pate?)
(Welt der Physik)
Dieses Modell hatte indessen einen Nachteil: Es erklärte ebenso wenig, warum der Zackenfirn in regelmäßigen Abständen und parallelen Orientierungen auftrat. Da half eine 2015 veröffentlichte Untersuchung von Philippe Claudin bei der Klärung:
»Regarding the characteristic spacing of these troughs, Claudin and his colleagues found that vapor diffusion at the surface is essential. It«s only when there are significant local variations in the vapor content of the air just above the surface that one part of the surface can sublimate quicker than another. But lateral diffusion [by wind] suppresses such differences—so if this diffusion is fast, separate penitentes can only grow a long distance apart. In other words, the separation of the penitentes increases with the diffusion rate.
(Bezüglich der typischen Verteilung dieser Mulden fanden Claudin und seine Kollegen heraus, dass die Oberflächenverbreitung des Dampfs ausschlaggebend ist. Nur bei deutlichen räumlichen Unterschieden im Dampfgehalt der Luft kann ein Teil der Oberfläche schneller sublimieren als ein anderer. Aber Seitwärtsverbreitung [durch Wind] verwischt derartige Unterschiede – geschieht diese Verteilung also schnell, können die Firnzacken nur weit entfernt voneinander gedeihen. Anders ausgedrückt: Der Abstand der Zacken steigt mit der Verbreitungsgeschwindigkeit.)«
(http://physics.aps.org/articles/v8/92)
Nun weichen die Strukturen in Tartarus Dorsa auf dem Pluto erheblich von denen auf der Erde ab. Zum einen: Sie sind nicht in eine, sondern in drei verschiedenen Richtungen orientiert, was nach Moores u. a. für ihr hohes Alter spricht, während irdischer Zackenfirn kein Jahr überdauert: Der Pluto muss mehrmals seine Bahndaten geändert haben, während sie anwuchsen. Zum anderen sind sie von gigantischer Größe: Wir haben es nicht mit einem Feld von Reschreiters hüfthohen Spitzen zu tun, sondern da türmen sich bis zu 500 m hohe Eiszinnen auf, die so weit auseinander stehen, dass man eine Kolonie zwischen sie setzen könnte!
Für einen Betrachter auf der Oberfläche des Plutos muss Tartarus Dorsa ein Naturwunder sein, wie es nur die kühnsten SF-Autoren hätten erdenken können. Vielleicht kommt ihm die Beschreibung am nächsten, die Stanislaw Lem in seinem Roman Das Fiasko (1985) von dem fiktiven Wald von Birnam auf dem Saturnmond Titan gab: »Das verbissene Spiel der chemischen Radikale … bringt einen Dschungel von zerbrechlichem Porzellan hervor, der, begünstigt durch die schwache Gravitation, Höhen bis zu einer Viertelmeile erreicht. … Das Ganze ist eigentlich eine geronnene Wolke aus geädertem Spinngewebe in allen Schattierungen von weiß, vom opalisierenden Perlmutt bis zum blendenden Milchweiß.« Nun wäre es interessant zu wissen, ob Büßerschnee auch unter den Bedingungen auf dem Titan auftreten kann – wäre das eine denkbare Erklärung für die auffallend helle Landschaft Xanadu?
Codex
Regius, Januar 2017
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